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Die Pflicht der Überlebenden

Quelle : Siegener Zeitung vom 29.01.2013

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Zeitzeugin Michaela Vidláková berichtete in der Realschule Am Oberen Schloss über ihre Kindheit im Konzentrationslager

Es ist still, mucksmäuschenstill im Musikraum der Realschule Am Oberen Schloss. Die Schülerinnen und Schüler der siebten Klassen lauschen gebannt den Erzählungen von Michaela Vidláková. Die 88-Jährige erzählt den Jugendlichen von ihren ersten Kindheitserinnerungen. „Ich durfte nicht mehr mit den anderen Kindern im Sandkasten spielen.“

Michaela Vidláková kam im Dezember 1936 als Michaela Lauscherová, Tochter eines jüdischen Ehepaares, in Prag zur Welt. Drei Jahre später marschierte die deutsche Wehrmacht in die Tschechoslowakei  ein. Kurz vor dem sechsten Geburtstag des Mädchens wurde die Familie ins Ghetto Theresienstadt  gebacht. „Erst verloren die Menschen ihre Arbeit und ihren Besitz, anschließend verloren wir als Häftlinge unsere Namen und unsere Rechte.“  Theresienstadt war ein sog.  Sammellager. Nur wenige blieben dort, für die meisten Menschen ging der Transport weiter in die Vernichtungslager. Keiner von uns wusste, was mit den Leuten passiert, die weiter in den Osten transportiert werden“, erinnert sich die Zeitzeugin. Nur durch einen Zufall konnten sie und ihre Familie in Theresienstadt bleiben. Der Vater, der lange vor dem Transport seinen Beruf als technischer Direktor einer Pelzfabrik aufgeben musste, erhielt im Lager eine Stelle als Holzarbeiter. Die damals sechsjährige Michaela wurde getrennt von ihren Eltern in einem der Kinderheime des Lagers untergebracht.  Dann wurde das kleine Mädchen krank: erst Thyphus, dann Gelbsucht und anschließend eine Herzmuskelentzündung. In der Krankenstation lernte sie Deutsch. Mein erster und einziger Deutschlehrer war ein Waisenjunge aus Berlin, ich lernte Deutsch und brachte ihm im Gegenzug Tschechisch bei. Kurz vor dem Ende des Krieges überlebte die Familie erneut durch eine Zufall: Während nach und nach immer mehr arbeitsfähige Männer in die Konzentrationslager deportiert wurden, meldete sich der Vater, einen Tag vor seinem Transport, zusammen mit zwei weiteren Männern zur freiwilligen Arbeit. Der Zug nach Auschwitz fuhr ohne die Familie ab. „Vermutlich war es der letzte Tranport in das Konzentrationslager“, erzählt die routinierte Zeitzeugin. 1945 bekam auch die Familie die Befreiung. Diese Gefühl der Freiheit sei unbeschreiblich gewesen, so Vidláková.

Das Ausmaß der Gewalt, die die Menschen während des NS-Regimes erfuhren, versuchte Vidláková den Schülern auch mit Hilfe von Bildern zu verdeutlichen. Die Abbildungen der Baracken, Krematorien, der Berge von Schuhen oder Brillen brachten die Schüler zum Nachdenken. Beim Anblick der abgemagerten Häftlinge stockte den Siebtklässlern der Atem.  „Als Überlebende ist es meine Pflicht über das, was passiert ist, zu berichten“, sagte Michaela Vidláková abschließend. Die Schülerinnen und Schüler haben verstanden, dass dieser schreckliche Teil der Geschichte nicht in Vergessenheit geraten darf.