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Erfolgreiches Zeitzeugenprojekt an der Realschule am Oberen Schloss

Mitglieder des Siegener Seniorenbeirates vermittelten Geschichte hautnah.
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Der Musikraum der Schule ist nahezu bis auf den letzten Platz gefüllt. Gespannt blicken rund 90 Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufe 10 nach vorne, als Dr. Maria Czell, Helmut Plate und Ernst Göckus auf dem Podium Platz nehmen. Flucht und Vertreibung, Stunde Null, Wiederaufbau sowie Kalter Krieg sind die Themen. Diese waren im Geschichtsunterricht von Frau  Kalliopi Pelteki und Herrn  Burkhard Leidig vorab erarbeitet worden ,und ein umfassender  gehaltvoller  Fragenkatalog wurde erstellt.

Dr. Maria Czell, in Siebenbürgen geboren, kann sich nochlebhaft  an viele leidvolle Geschehnisse erinnern. „Wir mussten Haus und Hof Hals über Kopf verlassen, die NS-Propaganda wollte uns einreden, dass wir bald wieder zurückkommen würden. Daran jedoch glaubte schon nach kurzer Zeit niemand mehr.“ Viele Bilder aus Flucht und Vertreibung haben sich bei ihr nachhaltig eingeprägt. „Nach über zwei Wochen voller Strapazen wurden wir kurzfristig von hilfreichen Menschen aufgenommen, es gab warme Milch mit Honig, wir konnten ein Bad benutzen, unsere Kleidung in Ordnung bringen und schliefen sogar in einem sauberen Bett. Das war für mich das Himmelreich.“  Die Hölle lag aber auch dicht daneben. Übernachtungen in einem Rinderstall, wo sie als Flüchtlinge panikhaft versuchten, sich vor den Tritten der Tiere in Sicherheit zu bringen. „Wir litten ständig unter quälendem Hunger, Zwieback gab es nur für Kinder bis zu 2 Jahren“, weiß sich die damals Vierjährige zu erinnern. Die Angst, zwischen den  militärischen Fronten in eine Falle zu geraten, nahm immer mehr zu. Luftangriffe durch die Rote Armee verdichteten sich, oft mussten sie in Getreidefeldern in Deckung gehen, stets in der Gefahr ,bei geringsten Bewegungen von oben erkannt zu werden. „Ein Mann wurde erschossen, als er die Zugtiere füttern wollte, und eine Frau nahm sich aus Verzweiflung das Leben… Die Aufnahme in Oberösterreich war anfangs alles andere als freundlich. Die Zuweisung in Wohnquartiere bei den umliegenden Bauern erfolgte nicht selten unter Polizeischutz, da niemand freiwillig Räumlichkeiten zur Verfügung stellen wollte. Die aufnehmenden Osterreicher waren zwar häufig gehässig und abweisend zu uns, es kam allerdings nie zu Gewalttaten.“Die Kinder hatten immer noch die geringsten Berührungsängste ,und allmählich verbesserte sich das Verhältnis zu den Einheimischen. Im Gegensatz zu heute lag der Vorteil für sämtliche Beteiligten allerdings auch in der gemeinsamen Sprache. Mehrfach hat Maria Czell ihre alte Heimat besucht, es hat sich jedoch viel verändert.

Helmut Plate war gerade 9 Jahre alt, als er das Kriegsende in der Siegener Numbach erlebte. Unmittelbar vor dem Zusammenbruch verbrachte er 14 Tage im Stollen. Sein Großvater hatte noch trotz herannahender Flieger die Ziege füttern wollen. Als es dann Fliegerentwarnung gab, fanden sie ihn tot. Das Haus war dem Erdboden gleich gemacht. Eindrucksvoll veranschaulichte Helmut Plate den Gegensatz zwischen einer idyllischen Postkarte aus der Vorkriegszeit und den Trümmerfeldern in der Numbach bei Kriegsende. „Das Wichtigste für uns war Essen, etwas zum Anziehen und wieder ein Dach über dem Kopf. Aus alten Wehrmachtsbeständen wurden Mäntel, Jacken und Hosen gefertigt, und ich ging regelmäßig in alten Holzpantinen zur Kirche und zur Schule. Nachmittags wurden am Betramsplatz Ziegelsteine geputzt, welche mein Vater dann per Handwagen zur Numbach transportierte. Holz wurde aus dem Wald geholt und als Baumaterial verarbeitet. Zu Weihnachten 1945 hatten wir dann wieder ein gemeinsames Dach über dem Kopf.“ Not macht erfinderisch, dies belegte der Zeitzeuge anhand selbst gefertigter Metallgefäße und Essgeräte. Einige Ziegen, ein Schwein und später eine Kuh sicherten das Überleben in den folgenden Hungerwintern, und schließlich konnten wieder in bescheidenem Maße Getreide und Kartoffeln angebaut werden. „Not schweißt zusammen, wir hatten alle die gleichen Sorgen“, so brachte Helmut Plate das damalige Miteinander auf den Punkt.

Das persönliche Erleben des Kalten Krieges wurde wie bereits bei früheren Zeitzeugenprojekten anhand der Ereignisse des 17. Juni, des Mauerbaus, der Kuba-Krise, aber auch anhand des Vietnamkrieges verdeutlicht. Die Sinnlosigkeit jeglichen Krieges geriet damit noch einmal nachdrücklich in den Wahrnehmungshorizont der Schüler. Erweiternd hinzu kamen noch persönliche Erlebnisse eines Zeitzeugen aus seiner damaligen Bundeswehrzeit, insbesondere strenge Bereitschaftsdienste an Wochenenden und Feiertagen, Alarmübungen  sowie scharfe Sicherheitsvorkehrungen. Auch subtile Strategien des verdeckten Kampfes, wie Tatsachen verdrehende Propaganda,  gezielte Provokationen  sowie Einschüchterungs- und Zermürbungstaktiken wurden anhand von Beispielen veranschaulicht.

In der anschließenden lebhaften Diskussion bewiesen die vielfältigen Beiträge der Schülerinnen und Schüler  tiefe persönliche Betroffenheit , hohes Problembewusstsein und engagierte Beteiligung.

Auch andere Schulen werden ausdrücklich ermutigt, von diesem Angebot des Siegener Seniorenbeirates Gebrauch zu machen. Es steht inzwischen ein beträchtlicher Katalog zeitgeschichtlicher Themen bereit. Nähere Auskünfte: Regiestelle Leben im Alter, Telefon 404-2220.

Ernst Göckus

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Gespannt und aufmerksam verfolgen die Schülerinnen und Schüler die Zeitzeugenberichte von Helmut Plate,  (l.) Dr. Maria Czell und Ernst Göckus

Foto: Seniorenbeirat